Eine kleine Geschichte der Vernunft









Als ich heute morgen mein Motorrad aus der Garage holen wollte,
glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen.
Aus einem winzig kleinem Loch in der hintersten dunklen Ecke der Garage rankte eine zarter,
hellgrüner Zweig in das Dunkel.

"Ja was machst Du denn hier?" sagte ich zu dem Ast.

"Das siehst Du doch, ich wachse hier" sagte der Ast.

"Aber wäre es nicht besser, wenn Du draußen in der Sonne, dort wo auch die anderen
Äste sind, wachsen würdest?"

" Ich weiß es nicht" sagte der Ast,
"als ich noch kleiner war, hat es mir nichts ausgemacht,
das es hier dunkel ist. Und ausserdem weis ich überhaupt nicht was die Sonne ist.
Ich habe sie ja noch nie gesehen.
Deshalb kann ich es Dir auch nicht sagen, ob es besser für mich wäre draußen zu
wachsen."

"Ja aber wenn Du draußen in der Sonne wachsen würdest,
wärst Du bestimmt nicht so zart und auch Deine
Farbe wäre viel satter" sagte ich,
" die Äste draußen in der Sonne sind stark und prächtig in Ihrer Farbe,
aber Du bist nur ein mickriger dünner Ast.
Gegen die Äste draußen würdest Du nie bestehen."

Ich habe die Äste draußen doch noch nie gesehen", sagte der Ast,
"und warum soll ich mich mit etwas vergleichem
das so ungleich mit mir ist?"

"Ich kann dich gerne durch das Loch, durch das Du gewachsen bist,
nach draußen in die Sonne ziehen. Dann kannst Du sehen,
wie schön es die anderen Äste dort draußen in der Sonne haben."

"Nein", sagte der Ast, "das möchte ich nicht.
Ich habe hier doch alles was ich für mich brauche. Aber, wenn Du
es jetzt so sagst, spüre ich doch, das es mich ein wenig traurig macht,
zu wissen, das es da draussen noch andere Äste gibt.
Und trotzdem, oder gerade deshalb, möchte ich hier in meiner Welt bleiben."

"Und wenn ich Dich nur mal kurz rausziehe und Dir verspreche,
Dich anschliessend wieder zurückzustecken?
Nur damit Du einmal die Möglichkeit hast, zu sehen,
wie es den anderen dort draußen geht?" fragte ich.
"Willst Du denn nicht auch größer und stärker werden, so wie alle anderen?"

"Ich bin zufrieden mit dem was ich bin", sagte der Ast,
"und nur, weil ich in anderer Gestalt daherkomme und nicht ihre Farbe habe,
brauche ich doch nicht unzufrieden zu sein oder mir weniger Wert."

Langsam fing ich an, den Ast zu verstehen.

"Und, da ist noch etwas", sagte der Ast,
"In mir spüre ich, das die Äste dort draußen aus der gleichen Wurzel stammen,
wir stehen in der selben Erde und in unseren Gefäßen rinnen die selben Säfte."

"Ja aber sieh doch, wie prächtig und voller Blüten die anderen sind.
Jeder der Äste dort draußen versucht größer und größer zu werden
und der Sonne näher zu kommen als die anderen."

"Aber ich fühle mich doch wohl, so wie ich bin" sagte der Ast,
"ich brauche keine Größe um mit mir und dem was ich habe zufrieden zu
Und die Nähe zur Sonne würde mich nur blenden."

"Ja aber in der Sonne ist es schön warm und nicht so kalt wie hier.
Sie würde auch Dir gut tun. Und wenn Du es doch nur mal kurz probieren möchtest?
Vielleicht wirts du ja auch noch ein richtiger Ast, so wie alle anderen da draußen?"

"Jetzt wirst Du aber anmassend," sagte der Ast,
"wer sagt dir denn, das ich kein richtiger Ast bin?
Nur weil ich nicht in Ihrer Welt leben will und nicht so sein will wie sie,
kannst du doch nicht sagen, das ich kein richtiger Ast wäre."

"Oh, das wollte ich aber nicht, das habe ich so nicht gemeint" sagte ich.

"Und warum sagtst Du es denn dann? Warum sagst du Dinge, die du nicht meinst"

"Ich wollte Dir doch nur etwas Gutes tun."

"Du willst mir Gutes tun? Woher weißt du denn, was für mich Gut ist?
Du beurteilst das Gute doch nach Deiner Welt, nach dem was Du kennst.
Meine Welt siehst Du immer nur für einen kurzen Augenblick.
Ein, zweimal am Tag öffnest Du für einen kurzen Augenblick das Garagentor zu meiner Welt.
Doch deine Gedanken sind viel zu abgelenkt von dem, was Du machst.
Deine Gedanken sind nur darauf konzentriert, Dein Motorrad zu holen um anschliessend
das Tor wieder zu schliessen um in Deine Welt zurückzukehren."


Die Worte des Astes machten mich verlegen.

"Und nochmal, auch wenn Du es nicht verstehen willst," sagte der Ast,
"ich fühle mich wohl hier in meiner Welt.
Ich brauche keine Sonnen, keine Größe und auch keine Stärke.
Ich habe hier meinen Platz gefunden. Hier kann ich wachsen so wie ich es möchte.
Niemand zwingt mich zu Größe und Stärke.
Hier zählen nur meine Maßstäbe."


Jetzt hatte der Ast mich endgültig davon überzeugt, das er mir um Welten voraus war.

"Kann ich denn sonst etwas für dich tun?" fragte ich den Ast.



"Ja," sagte er, "schliess bitte das Garagentor wieder."




Mai 2005




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